Zum 40-jährigen Jubiläum der ANPI

PD Dr. med. Frank Jochum, wissenschaftlicher Leiter der
ANPI-Jahrestagung 2024, im Gespräch über die Entwicklungen in der Neonatologie und pädiatrischen Intensivmedizin

Dr. Jochum, Sie sind Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau und auf die Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin spezialisiert. Was bewegt Sie?

Dr. Jochum: "Mein Ansporn ist, allen Neugeborenen als vulnerabelsten Teil unserer Gesellschaft den Weg in ein gesundes Leben ebnen zu können. Wir haben es in Deutschland geschafft, die Neugeborenensterblichkeit auf ein extrem niedriges Niveau zu bringen. Weniger als 0,3 Prozent der lebend Geborenen versterben innerhalb des ersten 28 Tage. Ende des 19. Jahrhunderts lag die Säuglingssterblichkeit bei über 25 Prozent, wobei in die Statistik ausschließlich gesund geborene Kinder eingingen; Frühgeborene oder behinderte Kinder wurden nicht mitgezählt. Selten freut man sich so über eine steil abfallende Entwicklungskurve. Es gibt meines Wissens keinen anderen medizinischen Bereich, in dem die Mortalitätsrate in gleichem Maße gesenkt werden konnte. Wir sehen das als Erfolg der Forschung und Weiterentwicklung und – um gleich einmal den ANPI ins Gespräch zu bringen – einer interdisziplinären Zusammenarbeit, durch die wir sprichwörtlich über den Tellerrand schauen. Mich befriedigt das sehr."


Sie sprechen von rasanten Fortschritten. Können Sie das kurz skizzieren?

Dr. Jochum: "In der Säuglingsmedizin haben wir quasi eine 180-Grad-Wende genommen. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man bei unreif geborenen Kindern versucht, die Situation in utero nachzubilden. Frühgeborene wurden in eine isolierte Situation gebracht, sie sollten möglichst nicht selbst atmen, wurden intubiert und bekamen bei Sedierung einen Zentralvenen-Katheter zur Katecholamintherapie und parenteraler Ernährung gelegt. Neonatologische Stationen waren für Besucher tabu. Überlebten die Kinder, wurden sie zum Teil erst lange nach der Geburt ihren Eltern ausgehändigt Heute machen wir im Grunde genau das Gegenteil. Wir beatmen die Kinder möglichst nicht, sondern versucht auch bei sehr unreif Geborenen mit einer Atemhilft zu arbeiten. Wir beginnen direkt nach der Geburt mit dem enteralen Nahrungsaufbau, weil wir wissen, dass der Darm auch vom Darmlumen aus ernährt wird, und wir so Komplikationen wie die nekrotisierender Enterokolitis reduzieren können. Auch wissen wir heute, dass eine invasive Maßnahme wie ein zentraler Venenkatheter zum Auftreten von Komplikationen beitragen kann, und wir bei jeder Maßnahme genau prüfen, ob das Vorgehen notwendig ist. Zudem tun wir von Anfang an alles für einen engen Elternkontakt. Damit konnten wir das Outcome in allen Gestationsstadien der Frühchen und auch bei krank Geborenen deutlich verbessern. Natürlich gab und gibt es begleitende Verbesserungen. Wir verfügen heute über spezielle säuglingstaugliche Geräte für die nicht-invasive Mikroblutanalysemethode oder Zubehör zur Verabreichung der Säuglingsernährung. Aber im Ergebnis liegt es an einer gewaltigen Lernkurve gestützt durch Forschung und Entwicklung, die uns so positiv in die Zukunft unserer Kinder blicken lässt."

Welche Entwicklung in der Neonatologie halten Sie für besonders erwähnenswert oder relevant?

Dr. Jochum: "Da gibt es viele, sowohl im medizinischen als auch im pflegerischen Bereich. Einen großen Schritt haben wir auch durch den Kollegen Dr. Heinz Lemke gemacht, der erkannte, dass unverträgliche Ernährung ein wesentlicher Grund für die Säuglingsmortalität war, und die erste adaptierte Säuglingsmilch in Deutschland entwickelte. Das war die Geburtsstunde der deutschen Marke Humana. Auch hier wieder die Brücke zur ANPI. Denn seitdem setzt sich das Unternehmen Humana mit Fokus auf Forschung und Weiterentwicklung für die Belange von Säuglingen ein und hat 1984 den Arbeitskreis für Neonatologie & Pädiatrische Intensivmedizin initiiert. Dieser einzigartige Verbund trägt bis heute im Wesentlichen dazu bei, durch einen interdisziplinären Austausch auf Augenhöhe die Entwicklung in unserem Bereich voranzubringen. Die ANPI ist eine Bereicherung für unsere Fachdisziplin."

Bitte erläutern Sie noch etwas dezidierter, warum Sie den ANPI schätzen. Macht es unter Compliance-Richtlinien etwas aus, dass ein Industrieunternehmen – Humana – beteiligt ist?

Dr. Jochum: "Die ANPI-Jahrestagung ist die einzige Tagung, die das gesamte Spektrum der neonatologischen Betreuung abdeckt und das Wissen aller beteiligten Disziplinen teilt. Wir lernen aus den Erfahrungen in anderen Häusern, was ein wesentlicher Aspekt dafür ist, dass sich unser Fachgebiet rasch weiterentwickelt. Wenn Ärztinnen, Ärzte, Pflegerinnen, Pfleger und andere an der Behandlung beteiligte Berufsgruppen achtsam zusammenarbeiten, sind die Voraussetzungen für Neugeborene ideal. Das Engagement von Humana ist hoch anerkennenswert, und ich denke, es ist eine Win-Win-Situation. Wir haben bei uns einen Ernährungsforschungsbereich, weil das Thema so wichtig ist. Aber wir sind keine Hersteller. Humana ist wissenschaftsorientiert und entwicklungsstark, interessiert an neuen Erkenntnissen und bemüht, diese in geeignete Nahrung für den individuellen Säuglingsbedarf umzusetzen. Humana nimmt keinen Einfluss auf das wissenschaftliche Programm der Jahrestagung, alles läuft transparent; ich sehe kein Konfliktpotenzial."

Das 40. Jubiläum der ANPI-Jahrestagung Ende Mai 2024 ist etwas Besonderes. Sie haben die wissenschaftliche Leitung übernommen und mitverantwortlich das Programm gestaltet. Wie fühlen Sie sich damit?

Dr. Jochum: "Ich fühle mich geehrt, die wissenschaftliche Leitung dieser renommierten Veranstaltung im Jubiläumsjahr übernehmen zu dürfen. Wir erwarten am 28. und 29. Mai in Potsdam knapp 400 Teilnehmer und haben Vorträge und Workshops zu spannenden interprofessionellen Themen und brennenden aktuellen Problemen rund um unser Arbeitsgebiet zusammengestellt. Ich freue mich, dass so viele Profis sich bereiterklärt haben, die Workshops zu leiten, und möchte mich bereits im Vorfeld für dieses – übrigens unentgeltliche – Engagement bedanken. Da unser Arbeitsbereich vor vielen Herausforderungen steht, ist der enge Informations- und Wissensaustausch umso wichtiger."

Sie sprechen von Herausforderungen. Welche sind das konkret?

Dr. Jochum: "Das sind sehr unterschiedliche Herausforderungen, von denen ich nur auf zwei kurz eingehen möchte. Das Thema Ernährung: Der Anteil an vegan lebenden Müttern steigt. Bei nicht sachgerechter Gestaltung deren Ernährung kann es über die Muttermilch zu einem für Säuglinge besonders gefährlichen Vitamin B12-Mangel mit irreversiblen Beeinträchtigung der neurologische Entwicklung des Kindes kommen. Wir müssen uns damit beschäftigen. Ernährung ist ein Evolutionsprozess mit entsprechender Genetik, die es schwer macht, plötzlich etwas wegzulassen. Säuglinge brauchen essenzielle Nährstoffe für ihre Entwicklung, und das müssen wir sowohl werdenden Eltern nahebringen als auch in unseren Neonaten-Ernährungskonzepten umsetzen. Ein zweites drängendes Thema ist der Pflegekräftemangel: Die Pflegereform hat zu einer generalistischen Ausbildung mit nur sechs Wochen praktischen Einblick in der Kinder- und Jugendmedizin geführt. Es fehlt in vielen Regionen das Angebot zur Vertiefung oder einer Spezialisierung. Hier geht der Appell an die Gesundheitspolitik, den Blick für die Schwächsten und Schutzbedürftigsten zu schärfen – und das auch vor dem Hintergrund von ansonsten unabsehbaren Folgekosten. Ich könnte mich auch zum behördlich vorgeschriebenen, zum Teil absurden Dokumentationsaufwand auslassen, aber wir sollten uns auf das Positive konzentrieren: Die Fortschritte, die wir in erster Linie durch interdisziplinäre Zusammenarbeit gemacht haben."

Vielen Dank für das Gespräch und eine erfolgreiche ANPI-Jahrestagung in Potsdam.

Sie möchten gerne teilnehmen? Hier geht`s zum gesamten Programm, zur Anmeldung und zur ANPI-Webseite.

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